Frankreich: Unverhältnismäßige Bürgschaftsverpflichtung einer natürlichen Person – Zeitpunkt der Abgabe der Vermögenserklärung

Rechtlicher Rahmen

Die offensichtliche Unverhältnismäßigkeit der Bürgschaftsverpflichtung einer natürlichen Person zu deren Vermögen und Einkommen kann die Wirksamkeit der Bürgschaft beeinträchtigen: Entweder wird die Inanspruchnahme aus der Bürgschaft vollumfänglich ausgeschlossen (alte Lösung: Artikel L. 341-4 a.F. des französischen Verbrauchergesetzbuchs) oder die Bürgschaft wird auf den Betrag reduziert, zu dem sich der Bürge unter Berücksichtigung seines Vermögens wirksam verpflichten konnte (aktuelle Lösung: Artikel 2300 des französischen Zivilgesetzbuchs).

 

In der Praxis fordern Banken den Bürgen regelmäßig auf, eine Vermögenserklärung abzugeben, um sich zu vergewissern, dass der Bürge über ausreichend Vermögen verfügt, um der Bürgschaftsverpflichtung gegebenenfalls nachzukommen. Mit Urteil vom 13.03.2023 (22-19.900) stellte die Handelskammer des französischen Kassationsgerichtshofs klar, dass die Unverhältnismäßigkeit einer Bürgschaftsverpflichtung, die von einer natürlichen Person gegenüber einem gewerblichen Gläubiger übernommen wurde, nur dann anhand einer Vermögenserklärung beurteilt werden kann, wenn der Bürge diese vor Abschluss des Bürgschaftsvertrags abgegeben hat.

 

Sachverhalt

Am 04.07.2008 hatte eine Bank einem Unternehmen einen unbefristeten Kredit gewährt, der durch die selbstschuldnerische Bürgschaft einer natürlichen Person abgesichert war. Später wurde das Unternehmen liquidiert und die Bank verklagte den Bürgen auf Zahlung. Dieser behauptete, die Bürgschaftsverpflichtung sei offensichtlich unverhältnismäßig zu seinem Vermögen und Einkommen. Die Bank berief sich aber auf die Vermögenserklärung des Bürgen, die ein Monat nach Abschluss des Bürgschaftsvertrags unterzeichnet wurde und aus der gerade keine offensichtliche Unverhältnismäßigkeit von Bürgschaftsverpflichtung und Vermögen hervorging. Dass die Vermögenserklärung erst nach Abschluss des Bürgschaftsvertrags unterzeichnet wurde, sei irrelevant, denn es würde ausreichen, dass diese in einem zeitlichen Zusammenhang mit dem Abschluss des Bürgschaftsvertrags stünde.

 

Entscheidungsgründe

Der französische Kassationsgerichtshof folgte dieser Argumentation nicht und entschied, dass Artikel L. 341-4 a.F. des Verbrauchergesetzbuches den Gläubiger zwar grundsätzlich nicht dazu verpflichtet, die vom Bürgen abgegebene Vermögenserklärung zu überprüfen, er aber verpflichtet ist, sich vor Abschluss des Bürgschaftsvertrags nach der Vermögenssituation des Bürgen zu erkundigen. Folglich kann eine nach Abschluss des Bürgschaftsvertrags abgegebene Vermögenserklärung bei der Beurteilung der Unverhältnismäßigkeit der Bürgschaftsverpflichtung nicht berücksichtigt werden. Die Beweislast für die Unverhältnismäßigkeit der Bürgschaftsverpflichtung obliegt dem Bürgen. Die nach Abschluss des Bürgschaftsvertrags abgegebene Vermögenserklärung kann ihm nicht entgegengehalten werden.

 

Fazit

Gläubiger müssen unbedingt darauf achten, dass die Vermögenserklärung vor Abschluss des Bürgschaftsvertrags abgegeben wird, damit diese bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Bürgschaftsverpflichtung zu den Vermögens- und Einkommensverhältnissen des Bürgen herangezogen werden kann. Dies erscheint letztlich schlüssig, da der Gläubiger zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Bürgschaftsvertrags die Verhältnismäßigkeit der Bürgschaftsverpflichtung zu den Vermögensverhältnissen des Bürgen nur dann beurteilen kann, wenn er zuvor über die in der Vermögenserklärung enthaltenen Informationen verfügt.

 

Deutsch-französischer Rechtsvergleich

Nach deutschem Recht ist eine Bürgschaft insbesondere nichtig, wenn sie i.S.v. § 138 BGB gegen die guten Sitten verstößt. Dies ist der Fall, wenn (i) ein offensichtliches Missverhältnis zwischen der Bürgschaftsverpflichtung und den finanziellen Möglichkeiten des Bürgen besteht und (ii) eine „strukturelle Unterlegenheit“ des Bürgen vorliegt, insbesondere wenn eine emotionale Bindung zwischen dem Schuldner und dem Bürgen besteht (Ehegatten, Kinder, u.a.) oder eine mögliche Unerfahrenheit des Bürgen in diesem Bereich ausgenutzt wird. In Deutschland verlangen die Banken vor der Vergabe eines Kredits jedoch häufig Bürgschaften des Ehepartners oder den Kindern des Schuldners, ohne zuvor deren Vermögensverhältnisse zu prüfen. Sie versuchen in solchen Fällen im Hinblick auf den Vorwurf der Sittenwidrigkeit zu argumentieren, dass das Risiko, dass der Bürge kein eigenes Einkommen oder Vermögen hat, bewusst in Kauf genommen worden ist, weil es vielmehr darum geht, zu verhindern, dass der Schuldner infolge der Kreditaufnahme sein Vermögen ganz oder teilweise auf nahestehende Personen verschiebt.

 

 

Jochen BAUERREIS

Avocat & Rechtsanwalt

jochen.bauerreis@abci-avocats.com

 

Viviane EBERSOLD

Avocat & Rechtsanwältin

viviane.ebersold@abci-avocats.com