Ungerechtfertigte Kündigung: Validierung der Macron-Tabelle durch den Kassationsgerichtshof

Der Kassationsgerichtshof hat am 11. Mai 2022 zwei erwartete Urteile erlassen, in denen es um die Vereinbarkeit der Entschädigungstabelle für ungerechtfertigte Kündigung, der sogenannten „Macron-Tabelle“, mit den Bestimmungen des Übereinkommens Nr. 158 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) und des Artikels 24 der Europäischen Sozialcharta ging.

Die Verordnung vom 22. September 2017 über die Vorhersehbarkeit und Sicherheit der Arbeitsverhältnisse führte in Artikel L. 1235-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs (Code du travail) eine neue Tabelle ein, mit der die Entschädigung bestimmt werden kann, auf die ein Arbeitnehmer im Falle einer ungerechtfertigten Kündigung Anspruch hat. Die Entschädigung liegt zwischen einem Mindest- und einem Höchstbetrag, der auf der Grundlage des Bruttoreferenzlohns berechnet wird, je nach Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers und der Anzahl der Arbeitnehmer im Unternehmen (mehr oder weniger als 11 Arbeitnehmer).

Die Vereinbarkeit der Tabelle mit dem Artikel 10 des IAO-Übereinkommens Nr. 158 und der Europäischen Sozialcharta wurde unmittelbar nach der Veröffentlichung der Verordnung durch einen Antrag des allgemeinen Gewerkschaftsbundes (CGT) auf einstweilige Aussetzung mit der Begründung angefochten, dass die Tabelle keine „angemessene“ Entschädigung ermögliche, wie sie in diesen beiden Texten gefordert wird. Der Verwaltungsrat (Conseil d’État) entschied jedoch, dass keine ernsthaften Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Tabelle bestanden (CE, Juge des référés, 07/12/2017, n°415243). Der Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) erklärte die Tabelle seinerseits für verfassungsmäßig (CC, DC, 21. März 2018, n°2018-761).

Der Kassationsgerichtshof wurde um eine Stellungnahme gebeten und befand, dass die Tabelle mit dem Artikel 10 des IAO-Übereinkommens Nr. 158 vereinbar sei und dass der Artikel 24 der Europäischen Sozialcharta in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen im französischen Recht keine unmittelbare Wirkung habe (Cass, avis, 17. Juli 2019, n°19-70.010 und n°19-70.011). Da diese Stellungnahmen für die Richter in der Hauptsache jedoch nicht bindend sind, wird die Anwendbarkeit der Tabelle weiterhin vor den Arbeitsgerichten und Berufungsgerichten bestritten.

So haben einige dieser Gerichte die in Artikel L. 1235-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs vorgesehene Tabelle außer Acht gelassen (CPH Lyon, 22. Januar 2019, Nr. 18/00458; CPH Agen, 5. Februar 2019, Nr. 18/00049; CA Bourges, 6. Nov. 2020, Nr. 19/00585; CA Paris, 16. März 2021, Nr. 19/08721).

Die beiden Urteile des Kassationsgerichts wurden daher mit besonderer Spannung erwartet.

Im ersten Fall war eine Arbeitnehmerin aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt worden. Sie hatte ihre Kündigung vor dem Arbeitsgericht von Bobigny und anschließend vor dem Berufungsgericht von Paris angefochten. Das Berufungsgericht hatte die Kündigung als ungerechtfertigt eingestuft und der Arbeitnehmerin eine Entschädigung zugesprochen, die über dem in der „Macron-Tabelle“ vorgesehenen Höchstbetrag lag. Das Gericht entschied, dass die in Artikel L.1235-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs vorgesehene Entschädigungstabelle aufgrund der besonderen Umstände des Falles nicht mit dem Artikel 10 des IAO-Übereinkommens Nr. 158 vereinbar und daher nicht anwendbar sei. Der Arbeitgeber hatte Kassationsbeschwerde eingelegt.

In diesem Urteil wirkt der Kassationsgerichtshof pädagogisch und erläutert seine Argumentation im Detail. Er stellt fest, dass Artikel 10 des IAO-Übereinkommens Nr. 158 vorsieht, dass Arbeitnehmern im Falle einer „unbegründete Kündigung“ eine „angemessene“ Entschädigung gezahlt werden muss. Die Angemessenheit der Entschädigung bedeutet, dass sie für den Arbeitgeber abschreckend ist und gleichwohl ermöglicht, den mit dem ungerechtfertigten Verlust des Arbeitsplatzes verbundenen Schaden angemessen zu beheben.

Die „unbegründete Kündigung“ bezieht sich nicht nur auf die ungerechtfertigte Kündigung, sondern auch auf die nichtige Kündigung. Gemäß Artikel L.1235-3-1 des französischen Arbeitsgesetzbuchs hat ein Arbeitnehmer, der ungültig gekündigt wurde, Anspruch auf eine Entschädigung in Höhe von mindestens sechs Monatsgehältern. Der Kassationsgerichtshof urteilte, dass Artikel L.1235-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs in Verbindung mit Artikel L.1235-3-1 desselben Gesetzbuchs eine angemessene Entschädigung ermöglicht, da er nicht nur die Dauer der Betriebszugehörigkeit des Arbeitnehmers und sein Gehalt berücksichtigt, sondern auch die Schwere des vom Arbeitgeber begangenen Fehlverhaltens.

Der Kassationsgerichtshof stützt sich dann auf Artikel L. 1235-4 des französischen Arbeitsgesetzbuchs, demzufolge der Arbeitgeber im Falle einer ungerechtfertigten Kündigung verpflichtet ist, den Arbeitslosenversicherungsträgern die dem Arbeitnehmer gezahlten Entschädigungen bis zu einer Höchstgrenze von sechs Monatsentschädigungen zu erstatten. Daraus leitet er ab, dass dieser Mechanismus für den Arbeitgeber eine abschreckende Wirkung hat.

Das Kassationsgericht kommt zu dem Schluss, dass die sogenannte „Macron-Tabelle“ eine „angemessene“ Entschädigung des Arbeitnehmers im Falle einer „unbegründete Kündigung“ ermöglicht und somit mit den Bestimmungen des IAO-Übereinkommens Nr. 158 vereinbar ist (Cass, Ch. soc., 11. Mai 2022, Nr. 21-14.490).

Dem zweiten Fall lag ein ähnlicher Sachverhalt zugrunde: Eine Arbeitnehmerin war aus wirtschaftlichen Gründen gekündigt worden und hatte ihre Kündigung vor dem Arbeitsgericht und anschließend vor dem Berufungsgericht Nancy angefochten. Das Berufungsgericht hatte ihr eine Entschädigung für ungerechtfertigte Kündigung gemäß der „Macron-Tabelle“ zugesprochen. Die Arbeitnehmerin legte daraufhin Kassationsbeschwerde ein mit der Begründung, dass Artikel L.1235-3 des französischen Arbeitsgesetzbuchs nicht mit Artikel 24 der Europäischen Sozialcharta vereinbar sei, wonach jeder Arbeitnehmer, der „ohne triftigen Grund“ gekündigt wird, Anspruch auf eine „angemessene“ Entschädigung hat.

Der Kassationshof nannte die Kriterien der direkten Wirkung: Das internationale Abkommen muss Rechte und Pflichten gegenüber Einzelpersonen begründen, darf nicht ausschließlich die Beziehungen zwischen Staaten regeln und darf keinen ergänzenden Rechtsakt erfordern, um Wirkungen gegenüber Einzelpersonen zu entfalten. Er stellt jedoch fest, dass sich aus den Bestimmungen der Sozialcharta, insbesondere aus Teil IV Artikel 1, ergibt, dass diese Charta Ziele und Verpflichtungen festlegen will, die dann durch alle geeigneten Mittel wie Gesetze oder Verordnungen in das nationale Recht umgesetzt werden müssen. Da zusätzliche Rechtsakte erforderlich sind, stimmt der Kassationsgerichtshof der Argumentation des Berufungsgerichts zu: Die Bestimmungen der Europäischen Sozialcharta haben keine direkte Wirkung in einem Rechtsstreit zwischen Privatpersonen. Die Arbeitnehmerin kann sich daher nicht auf sie berufen (Cass, Ch. soc., 11. Mai 2022, Nr. 21-15.247).