FRANKREICH: Handelsvertreter – Die von dem Unternehmer nach Beendigung des Handelsvertretervertrags entdeckte schwerwiegende Pflichtverletzung des Handelsvertreters hat keine Auswirkung auf den Ausgleichsanspruch: Änderung der bisherigen Rechtsprechung

Der französische Kassationsgerichtshof befasste sich in zwei Urteilen vom 16.11.2022 mit der folgenden Frage:  Kann der Unternehmer die Zahlung des Ausgleichsanspruchs des Handelsvertreters verweigern, indem er sich auf eine erst nach der Kündigung des Handelsvertretervertrags entdeckte schwerwiegende Pflichtverletzung des Handelsvertreters beruft?

Das oberste Gericht verneinte dies und entschied, dass der Anspruch des Handelsvertreters auf Zahlung des Ausgleichsanspruchs nicht entfällt, wenn – wie im ersten Fall – die schwerwiegende Pflichtverletzung erst nach der Kündigung des Handelsvertretervertrags vom Unternehmer entdeckt wurde oder – wie im zweiten Fall –  der Handelsvertreter den Vertrag aufgrund von Pflichtverletzungen des Unternehmers rechtmäßig kündigen konnte (Cass. com. 16.11.2022, n° 21-17.423 FS-B; Cass. com. 16.11.2022, n° 21-10.126 FS-B).

Im ersten Fall entschied der Kassationsgerichtshof, dass dem Handelsvertreter, der vor der Kündigung des Handelsvertretervertrags eine schwerwiegende Pflichtverletzung begangen hat, die erst nach der Kündigung vom Unternehmer entdeckt wurde und somit nicht ursächlich für die Kündigung gewesen ist, der Ausgleichsanspruch nicht vorenthalten werden kann (Cass. com. 16.11.2022, n° 21-17.423 FS-B, Sté Acopal c/ Sté Paniers Terdis). Der Kassationsgerichtshof bezog sich hierbei auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH 28.10.2010 Rs. 203/09: RJDA 2/11 Nr. 136; EuGH 19.4.2018 Rs. 645/16) und auf die Artikel 17 und 18 a) der Richtlinie 86/653 vom 18.12.1986 zur Koordinierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten betreffend die selbstständigen Handelsvertreter.

Im zweiten Fall hatte der Handelsvertreter den Handelsvertretervertrag aufgrund von Pflichtverletzungen des Unternehmers gekündigt. Der Kassationsgerichtshof trat der Auffassung des Unternehmers entgegen, der die Zahlung des Ausgleichsanspruchs mit der Begründung verweigerte, der Handelsvertreter habe eine schwerwiegende Pflichtverletzung begangen, indem er ohne Einverständnis des Unternehmers für ein Konkurrenzunternehmen tätig gewesen sei. Hier hat der Kassationsgerichtshof in strenger Anwendung von
Artikel L 134-13, 2° des französischen Handelsgesetzbuchs entschieden, dass der Unternehmer unabhängig von der Pflichtverletzung des Handelsvertreters nicht von der Pflicht zur Zahlung des Ausgleichsanspruchs befreit wird, wenn die Kündigung des Handelsvertretervertrags durch eine Pflichtverletzung des Unternehmers gerechtfertigt ist (Cass. com. 16.11.2022, n° 21-10.126 FS-B).

Der Kassationsgerichtshof hat mit diesen Entscheidungen eine Kehrtwende vollzogen (vgl. Cass. com. 19-6-2019 n° 18-11.727 F-D) und seine Rechtsprechung an die des Europäischen Gerichtshofs angepasst.